Nach meinem ersten Roman: „Bagwan, Lana und der Rest“ habe ich einen zweiten Roman „Annelore, der Guru und die Liebe“ geschrieben. Diesen möchte ich als regelmäßigen Fortsetzungsroman auf meinem Blog anbieten.
32. Kapitel: Der heilige Berg
Eine Landkarte ist nicht die Wirklichkeit, sondern eine Darstellung derselben. Wenn wir den Mond betrachten wollen, müssen wir auf den Mond schauen und nicht auf den Finger, der zum Mond zeigt. So banal diese Beispiele klingen, so tiefgreifend wahr sind sie, wenn wir sie erleben. All die Gurus und weisen Menschen, die ich bis zu diesem Zeitpunkt getroffen habe, sind alles Finger, denn sie weisen auf den Mond. Voller Faszination schaue ich immer wieder auf den Finger und bin mir gar nicht darüber im Klaren, dass ich gar nicht auf den Mond achte. Im Prinzip existiert der Mond für mich gar nicht, da ich ja auf den Finger fixiert bin und diesen für den Mond halte. Ein echter Guru, der sich aus seinem Herzen heraus wünscht, dass seine Schüler oder Anhänger die Wahrheit erkennen, kann sicherlich immer wieder verzweifeln, wenn seine Schüler ihn für die Wahrheit halten und nicht erkennen, dass er nur der Mittler zur Wahrheit ist. Der Buddha soll sich der Sage nach direkt nach seiner Erleuchtung unter dem Bodhi-Baum geweigert haben, seine Wahrheit weiterzugeben, weil er befürchtete, dass niemand die Wahrheit erkennen könne. Nur durch die Überredung seiner längst verstorbenen Mutter und Brahman, den höchsten der Götter, die aus dem Himmel herabkamen, um den Buddha anzuflehen, das Rad der Lehre in Bewegung zu setzen, konnte der Buddha letztlich überredet werden, genau das zu tun. Und er lehrte fortan nahezu vierzig Jahre. Auch seine Lehren wurden und werden als Finger gesehen, nur selten einmal hebt jemand seinen Blick empor, um den Mond selber anzuschauen. Der heilige Berg Arunachala ist auch so ein Finger. Ähnlich wie der Kailash steht er für die Verkörperung des Selbst. Wer den Berg Arunachala sieht, der sieht mich, sagte Ramana Maharshi, der zeitlebens diesen Berg nicht verlassen hat. Und wer Ramana Maharshi sieht, der sieht sein Selbst. Wenn er es denn sieht.
Als ich nach einer, wie immer, interessanten Fahrt durch Indien Tiruvannamalai erreiche, sehe ich den Berg in seiner majestätischen Ruhe, und ähnlich wie es mir im schottischen Highland und auf der nordfriesischen Insel Sylt ergangen ist, habe ich das Gefühl, energetisch auf einem höheren Level zu sein. Das lässt sich nur schwer beschreiben. Vielleicht ist es so ähnlich, wenn wir frisch verliebt sind. Dann scheinen alle Dinge und Begebenheiten mit Bedeutung erfüllt zu sein, so, als wäre die Welt gemeinsam mit uns verliebt, was sicherlich auch irgendwie der Wahrheit entspricht. Im Zustand des verliebt seins leben wir auf einem höheren Level. Und so ergeht es mir auch hier. Ich finde eine billige, aber saubere Unterkunft. Ich gehe einfach und nahrhaft essen, aber meine Gedanken, mein inneres Gefühl sind auf den Berg ausgerichtet. Fast möchte man Luis Trenker zitieren, der da sagte, „der Berg ruft“. Es ist tatsächlich so. Der Berg ruft. Das Selbst ruft. Das Universum ruft, und zwar ohne Unterlass, aber wir hören nicht. Ich höre nicht. Und ich höre doch, denn ich bin hier und ich werde in den nächsten Tagen den Berg umrunden und ihn auch besteigen. Vielleicht komme ich so meinem Selbst näher. Was für ein komischer Gedanke, denn niemals bin ich vom Selbst getrennt. Aber vielleicht wird mir das bewusster, wenn ich mich dem Berg zuwende. Kann doch sein.
Am nächsten Morgen wandere ich um den Berg herum und in gewisser Weise umlaufe ich dabei auch mein eigenes Leben. Immer liegt der Berg im Zentrum, der sich nicht von der Stelle rührt, nur ich bin es, der sich bewegt. Ist das ein Bild dafür, dass das Selbst in sich ruht, während wir verzweifelt unsere Runden drehen? Die Wanderung geht über Stunden, aber die Relativität der Zeit bringt es mit sich, dass äußere und innere Zeit nicht übereinstimmen, denn während ich um den Berg herumlaufe, erlebe ich in meiner inneren Welt viele Ereignisse meines Lebens neu. Nicht alles, was ich da sehe, gefällt mir, aber ich erkenne, dass es alles zu mir gehört. Ganz deutlich werden die Fäden, die mich an meine Persönlichkeit binden, die verhindern, dass ich frei bin. Die ganze Geschichte mit Annelore ist ein perfektes Sinnbild dafür, denn anstatt Freiheit habe ich Besitzstreben und Eifersucht gelebt. Ich halte an und blicke auf den Berg, der von dieser Seite her wieder ganz anders wirkt als zuvor und mir wird klar, dass es nur eine Person gibt, die mir die angeborene Freiheit verwehrt, und diese Person bin ich selbst.
Am nächsten Morgen tun mir die Füße weh. Intuitiv ist mir klar, dass dies kein Tag für Abenteuer und Heldentaten ist, sondern es darum geht, die Dinge zu verarbeiten und ein wenig zur Ruhe zu kommen. Ich wandere durch die Straßen und schaue mir das rege Treiben dort an. Dann sitze ich lange in einem Tee-Laden und lese. Den Besitzer scheint es nicht zu stören, dass ich dort sitze, solange ich immer nur wieder neuen Tee bestelle. Allerdings ist es ein wenig abenteuerlich, den Tee auch wieder loszuwerden, denn hinter dem Laden muss ich dafür ein offenes Stück überqueren, auf dem es sich etliche heilige Kühe bequem gemacht haben und mich nicht unbedingt durchlassen wollen. Aber auch das meistere ich. Als ich das zweite Mal von meinem Gang in den Laden zurückkehre, sehe ich eine junge Frau in meinem Buch blättern.
<<Ein weißer Schimmel!>>, sagt sie, als ich auf sie zugehe und gibt mir mein Buch.
Ich gucke sie wohl etwas ratlos an, denn sie ergänzt:
<<Ein Buch von Ramana Maharshi zu lesen, wenn man sich am Berg Arunachala befindet, ist wie ein weißer Schimmel.>>
In der Folge erkläre ich ihr, dass mir das Buch dabei helfen soll, mich noch mehr mit diesem Mysterium zu beschäftigen. Sie hört mir eine Zeitlang zu, weist mich dann aber darauf hin, dass ihr das zu theoretisch ist und ob ich nicht Lust hätte, mit ihr gemeinsam auf den Berg zu klettern. Ich habe Lust und so verabreden wir uns für den nächsten Morgen am gleichen Stand. Sie verabschiedet sich von mir und danach habe ich keine Lust mehr, in dem Buch zu lesen.
Am nächsten Morgen ist sie sogar vor mir am Teestand. Sie diskutiert mit ein paar Leuten, hört damit aber auf, als sie mich erblickt. Mir wird bewusst, dass ich noch nicht einmal ihren Namen weiß.
<<Wollen wir los?>>, fragt sie mich und so, wie sie mich anschaut, muss ich an Annelore denken, obwohl sie ihr gar nicht ähnlich sieht. Aber ich will erst einmal ihren Namen wissen.
<<Ich heiße Sabine, komme aus Würzburg, bin zur Zeit Single, habe keine Kinder und möchte gern wissen, wer oder was ich in Wirklichkeit bin. Reicht dir das?>>
Ja, das reicht mir, denn sie hat ihre gesamte Lebensgeschichte in einem Satz untergebracht. Auf dem Weg den Berg hoch unterhalten wir uns weiter und so erfahren wir doch noch eine ganze Menge vom anderen. Ich erzähle ihr, dass ich von meiner Freundin verlassen worden bin, obwohl wir diese Reise über Wochen und Monate geplant haben. Mir ist wohl meine Ratlosigkeit deutlich anzumerken, denn Sabine bringt das Ego von Annelore ins Spiel.
<<Schau mal, du suchst nach deiner wahren Identität und dir wird dabei immer klarer, dass du nicht dein Ego bist. Das es dieses Ego vielleicht gar nicht gibt. Da hat sie, bzw. ihr Ego Angst bekommen und hat den erstbesten Grund genommen, um dich und damit den Verlust ihres Egos zu verlassen.>>
Meine Frage, ob sie vielleicht Psychologie studiert, bejaht sie.
<<Ist das so offensichtlich?>>, fragt sie mich.
Ich weiß nicht genau, wie ich reagieren soll, aber da lacht sie.
<<Mein Vater ist Psychologe und da bin ich schon von Kindheit an damit konfrontiert worden.>>, erklärt sie mir. Ich ermuntere sie weiterzusprechen.
<<Weißt du, als Jugendliche rebellieren wir gegen unsere Eltern, auch indem wir genau das Gegenteil von dem machen, was sie gut finden, wofür sie stehen.>>
Wieder macht sie eine Pause, schaut erst mich an, mustert mich dabei regelrecht und schaut dann auf den vor uns liegenden Berg. Sie lächelt.
<<Was ist?>>, möchte ich von ihr wissen.
Sie zuckt mit den Schultern, spricht dann aber doch weiter:
<<Später, als ich lange ausgezogen bin und meine langjährige Beziehung auseinander ging, da habe ich mich erinnert und mich mit meinen Eltern, vor allem mit meinem Vater ausgesöhnt.>>
Ich könnte ihr jetzt gut von meiner Familie und meinen Problemen mit meinem Vater erzählen, aber ich möchte noch mehr, dass sie ihre Geschichte zu Ende erzählt. Es scheint fast so, als würden wir in Anbetracht dessen, dass wir gleich beginnen werden, den Berg zu besteigen, noch einmal die Beichte ablegen. Ich habe ihr von Annelore erzählt und sie breitet mir, einem Unbekannten, ihre gesamte Lebensgeschichte aus.
<<Und dann hast du Psychologie studiert?>>, versuche ich ihr eine Brücke zu bauen.
Sie schaut mich etwas erstaunt an und in ganz kurzer Zeit zeigt ihr Gesicht eine Vielzahl von unterschiedlichen Emotionen, dann murmelt sie aber:
<<Ja, dann habe ich Psychologie studiert.>>
Dann schweigen wir, weil wir am Fuße des Berges angekommen sind und es nun daran geht, ihn zu besteigen, den heiligen Berg.
Je höher wir auf den Berg steigen, desto weniger reden wir tatsächlich. Das liegt zum einen mit daran, dass uns schlichtweg die Luft dazu fehlt, aber zum anderen wird die Präsenz des Berges immer deutlicher. In mir verändert sich etwas. Ich spüre deutlich meinen Körper, der sich beim Klettern anstrengen muss und schneller atmet. Neben und hinter mir geht Sabine und scheint auch ganz mit sich beschäftigt zu sein. Ich sehe sie an, schaue auf den über uns ruhenden Berg, spüre meinen Körper und der Zeitfluss verlangsamt sich. Zuerst ganz sachte, so, als wolle er mir vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Dann aber schneller werdend, löst sich mein Klammern etwas auf und mein Bewusstsein weitet sich. Dabei wird mir klar, dass ich mich zwar mit meinem Körper identifiziere, dass ich aber das Bewusstsein bin, was nicht nur der Körper, sondern auch der Berg ist. Ehrfurcht und Freude steigen in mir auf und ich fühle mich von der Energie dermaßen durchströmt, dass ich nicht mehr weitergehen kann. Ich setze mich auf einen Stein, beobachte die Affen, die einen Steinwurf weit weg miteinander zu spielen scheinen und schaue vom Berg herunter auf die Stadt. Sabine setzt sich zu mir.
<<Irgendetwas passiert mit dir?>>, fragt sie mich, es klingt aber wie eine Beobachtung.
Ich spüre sie neben mir, höre ihre Worte, fühle die Wärme und das Leben ihres Körpers und sie ist mir ebenso vertraut wie mein eigenes Selbst. Ich will ihr antworten, kann es aber nicht, da sind keine Worte. Sie schaut mir in die Augen und ich kann sehen, was sie sieht. Ich weiß, dass sie sich jetzt abwenden wird, weil sie es nicht versteht. Sie wendet sich ab. Ich halte sie zurück und spreche dann doch:
<<Der Berg ist hier. Er bewegt sich nicht weg. Was er ist, ist unberührt und rein und das wird sich niemals ändern. Und wir sind dasselbe. Wir sind nicht das von Haut umspannte Ich. Wir sind nicht die Vorstellung von uns, wir sind das, was allen Vorstellungen zugrunde liegt. Und jeder von uns weiß das immer.>>
Sabine sieht mich an, als würde sie mich das erste Mal sehen.
<<Wir kennen uns jetzt einen Tag. Ich gehe mit dir auf diesen Berg, damit ich es nicht allein tun muss und kaum sind wir halb oben, bekommst du einen Anfall von Größenwahn oder eine Erleuchtung und nun redest du so… Was soll ich davon halten?>>
<<Wie so?>>, will ich wissen und frage mich selbst.
<<So erleuchtet….>>, sagt sie mir.
Es gibt keine Trennung. Alles ist erleuchtet. So empfinde ich es. Natürlich ist mir wie in einem zweiten parallel laufenden Film bewusst, dass ich ich bin und sie Sabine heißt, aber es fühlt sich so nicht an. Es ist, als würde man der Realität eine zweite Realität hinzufügen. Nun verstehe ich, was es heißt, wenn sie im Zen sagen, dem Hasen noch einen Hasenkopf aufsetzen. Der Hase alias die Realität hat schon einen Kopf und braucht keinen zweiten davon.
Ich zucke mit den Schultern, weiß selber nicht, was ich davon halten soll. So sage ich nur:
<<Lass uns einfach jetzt zurückgehen.>>
Sie mustert mich intensiv, fragt mich dann, ob mit mir alles in Ordnung ist, was ich bejahe, worauf wir unser Klettern weiter nach oben abbrechen und wieder das Stück zurückgehen, das wir gerade empor geklettert sind. Nur eines ist gleich wie auf dem Hinweg, wir schweigen auch diesmal, aber es ist kein gutes Schweigen, denn Sabine ist in ihrem Inneren getroffen, und sie gibt mir die Schuld dafür, obwohl sie weiß, dass ich keine Schuld habe, aber sie ist nicht bereit, den nächsten Schritt zu gehen. Noch nicht. Und vielleicht nicht mit mir. Der Verlust des Glaubens an sich als einzeln existente Person erfordert Mut und ist nicht leicht zu verkraften. Das macht uns Angst, und davor schrecken wir zurück, obwohl wir natürlich gern die absolute Erfahrung machen würden, hält uns Angst, Prägung und eine gewisse Lähmung zurück. Wenn wir jemandem begegnen, der diese Erfahrung gemacht hat, dann sind wir entweder fasziniert oder wir müssen sofort weg, weil dieser Mensch gefährlich für uns ist. Genauso ein Mensch war ich urplötzlich für Sabine geworden.
Wir trennen uns am Teestand. Sie blickt nicht zurück. Ich gebe es immer mehr auf, die Reaktionen anderer Menschen zu bewerten. Sie glauben an ihr Ich und an ihren freien Willen und meistens setzen sie beides ein, um sich und andere zu verletzen und nennen es ihre Suche nach dem Glück. Ich will ihnen beides nicht nehmen, aber da ist im Grunde nichts, weder ein Ich, noch ein freier Wille. Die Vorstellung davon verhindert nur, dass etwas anderes nicht offensichtlich wird. Dabei ist das immer da und wirklich real. Komisch, dass das, was wirklich real ist, für Einbildung gehalten wird und die Illusion wird für Realität gehalten. Verdrehte Welt.